Die niedersächsische Landtagswahl ist Geschichte, das Ergebnis bekannt. Stefan Weil darf weiterhin den Landesvater spielen, es gibt voraussichtlich eine rot-grüne Koalition. Die Grünen fühlen sich als Sieger, denn im Vergleich zur letzten Landtagswahl haben sie ordentlich Prozentpunkte hinzugewonnen, auch wenn manche Stimmen unken, im Vergleich zur Bundestagswahl und den vorangegangenen Umfragen sei das vorhandene Potential nicht ausgenutzt worden. Wundenlecken ist bei der FDP angesagt, denn die Partei schaffte es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde und flog aus dem Landtag. Die großen Medien sind inzwischen weitergezogen und widmen sich wieder anderen Themen.
Ich selbst hatte mich auch nicht lange mit der Wahl aufhalten wollen, habe mein Kreuz in vollem Bewusstsein, dass es vermutlich nicht reichen würde, bei den Freien Wählern gemacht, um dann die Sache möglichst bald zu vergessen. Nicht zu wählen ist für mich keine Option (obwohl ich dafür derzeit niemanden schelten würde) und eine Stimme bei den „Kleinen“ macht jedenfalls den grauen Balken mit den „Anderen“ noch größer und mehr und mehr erklärungsbedürftig.
Damit könnte man die Analyse abschließen.
Nach dem Wahlgang hatte ich allerdings ein kurzes Gespräch mit einem anderen Wähler, der anscheinend neu zugezogen war. Er sprach mich kurz darauf an, welcher Wahlbezirk denn jetzt Transvaal und welcher Port Arthur sei. Die „Demarkationslinie“ zwischen diesen beiden Teil-Stadtteilen ist selbst für Emder etwas verwirrend, denn im Viertel selbst gibt es keinen wirklichen städtebaulich sichtbaren Unterschied, die Viertel sind nach und nach zusammengewachsen. Tatsächlich war es bei uns in der Familie immer wieder mal Gespräch, ob das Haus, in dem ich wohne, nun in Port Arthur oder auf Transvaal liegt. Meine Stimme hatte ich im Wahlraum Transvaal II abzugeben.
Emden-Port-Arthur: Ein Brennpunkt verliert das Vertrauen in die SPD
Ein paar Tage nach der Landtagswahl war mir das anlässlich der Grundsteuererklärung wieder eingefallen, ich hatte es kurz recherchiert (tatsächlich gehören wir zu Port Arthur), war dann aber auf der Seite mit den offiziellen Wahlergebnissen hängen geblieben:
In meinem Wahlbezirk Transvaal II hatte die AfD satte 20 Prozent der Stimmen geholt, nahezu doppelt so viele wie im landesweiten Durchschnitt. In den anderen beiden Transvaaler Wahlbezirken ergibt sich ein ähnliches Bild. Mit über 28 Prozent der Wählerstimmen im Wahlbezirk Port Arthur rückte die AfD dort fast bis auf fünf Prozentpunkte an die SPD heran.
Das ist ein Erdrutsch:
Transvaal ist das, was man früher einmal als Rote Monarchie bezeichnet hat. Das Viertel liegt genau parallel zum Emder Hafenfahrwasser zwischen Innenstadt und der markanten Hafenmole, dem seeseitigen Wahrzeichen der Stadt. Die Wege zu Werften und Hafenanlagen waren kurz, Transvaal das Viertel der einfachen Hafenarbeiter und Netzflickerinnen. Entsprechend rau ging es hier manchmal zu. Die Sozialdemokraten holten normalerweise satte absolute Mehrheiten, den Rest teilten sich ein paar versprengte CDUler und die Kommunisten.
Daran änderte lange auch der spürbare Strukturwandel im Hafen nichts. Vom einst stolzen Emder Schiffbau (in Emden wurde einst das Loveboat gebaut, weit bevor Meyer in Papenburg seine Homeric die Ems abwärts schickte) ist kaum noch etwas übrig geblieben, die letzte Verladebrücke für Schüttgut wurde im Sommer 2022 publikumswirksam gesprengt. Der Hafen lebt mehr oder weniger vom Volkswagen-Konzern, der über Emden jährlich mehr als eine Million Fahrzeuge ein- und ausführt. Die Arbeitsplätze gingen, die Wahlbeteiligung sank, aber die Mehrheiten für die SPD blieben.
Von Grünen und Blauen: Eine Region auf dem Weg in die politische Spaltung
Ich klickte mich ein wenig weiter durch die Wahlergebnisse, erst durch die Emder Stimmbezirke, dann weiter und weiter in die Wahlräume der Nachbarlandkreise, mal in die Verwaltungsstadt Aurich, mal in winzige Warftdörfer mit vielleicht gerade über hundert Stimmberechtigten – Orte, durch die ich bei sommerlichen Ausfahren mit dem Rad gerauscht bin, wo man hier und dort mal auf einer Bank unter einem alten Baum Rast hielt. Und ich bin tatsächlich etwas erschüttert:
Es zeigt sich eine deutliche, teilweise gut vorhersagbare gesellschaftliche Spaltung in den Wahlergebnissen. Sie manifestiert sich in erheblichen Gefällen der Stimmenanteile für die AfD und Grüne. Auf der einen Seite finden sich – völlig erwartbar – die Hochburgen der Grünen in den Innenstädten und gehobenen Wohngegenden der Städte, sowie auf den stark vom Tourismus abhängigen Inseln.
Auf der anderen Seite liegen zunächst die ehemaligen Arbeiterhochburgen und sozialen Brennpunkte wie die Emder Stadteile Transvaal, Barenburg und Borssum. So weit, so erwartbar. Daneben gibt es aber noch eine zweite Gruppe von Ortschaften, in denen die AfD drastisch Stimmen gewonnen hat: Es sind oftmals – und das kommt überraschend – kleine Fehn- oder Hammrichdörfer mit wenigen Stimmberechtigten und recht passabler Wahlbeteiligung.
Die Gemengelage in diesen Ortschaften ist anders: Wer hier lebt, befindet sich normalerweise nicht in prekären Verhältnissen. Hier gab es jahrzehntelang günstige große Grundstücke für den kleinen Traum vom Häuschen im Grünen. In den Altdörfern wohnen die Familien teilweise seit Generationen nebeneinander. Die Lockdowns haben hier vermutlich deutlich weniger soziale Schäden angerichtet, als in den Städten. Als Sportkurse entfielen, Kneipen und Restaurants schlossen, war es auf dem Land noch mit am besten auszuhalten. Wer hier im Lockdownwinter Anfang 2021 mit seinen Kindern auf den Deich zum Rodeln ging, der konnte sich halbwegs sicher sein, dass die Nachbarn nicht gleich die Kavallerie rufen.
Beispiel Woltzeten: Auf den Dörfern kippt die Stimmung
Ein Beispiel für so ein Dorf ist Woltzeten in der Gemeinde Krummhörn. Der Ort liegt quasi in zweiter Reihe hinter dem Deich etwas abseits im Marschland. Es ist ein klassisches Warftdorf mit einigen Häusern und Höfen, die sich im Halbrund um eine winzige Einraumkirche kuscheln. Mit 9,4 Prozent für die AfD war die Partei schon bei der Landtagswahl 2017 relativ stark, aber 2022 konnte sie ihr Ergebnis mehr als verdreifachen. Auffällig ist dabei, dass die CDU nur minimale Verluste hinnehmen musste, während die Ampelparteien erheblich Stimmen verloren haben. Die SPD sackte um zehn Prozentpunkte ab, Grüne und FDP verloren jeweils die Hälfte ihrer Stimmen.
Für so ein kleines Wahllokal gibt es natürlich keine Umfragen zu Wählerwanderungen, aber es liegt die Vermutung nahe, dass hier von den Ampelparteien aus – also auch von den Grünen – Stimmen zur AfD abgewandert sind. Ein so starker Umschwung in der Wählergunst ist erklärungsbedürftig. Nimmt man die Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2021 mit in die Betrachtung hinein, so scheint es, dass etliche Wähler zunächst noch die FDP und diverse Kleinparteien als Ausweichmöglichkeit genutzt haben. Nachdem die FDP aber mehrere wichtige Wahlversprechen gebrochen hat, ist das Vertrauen dieser Wähler in die Partei erschüttert und sie wanderten frustriert zu den Blauen ab.
Woltzeten ist, wie bereits angedeutet, kein Einzelfall. Über ganz Ostfriesland verteilt finden sich etliche sehr ländlich geprägte Ortschaften und Gemeinden, in denen die AfD ähnliche Überraschungserfolge verbuchen konnte. Aber warum sind es ausgerechnet diese kleinen Einheiten und eben nicht die Städte?
Die Gewinne für die AfD bei der Landtagswahl: Ein Erklärungsversuch
Ich vermute, es hängt mit den etwas anderen sozialen Strukturen auf dem Land zusammen. Die sozialen Netzwerke sind auf dem Land meist deutlich heterogener, als in der Stadt. Während es in der Stadt unter normalen Umständen sehr einfach ist, sich ein Umfeld mit ähnlich denkenden Menschen aufzubauen, musste sich die Landbevölkerung schon immer trotz unterschiedlicher Ansichten miteinander arrangieren. Diese aus der Notwendigkeit entstehende provinzielle Toleranz wird übrigens von Großstadtbewohnern noch immer hoffnungslos unterschätzt.
Gleichzeitig sind ländliche soziale Netzwerke vermutlich resilienter gegen Hysterisierung durch Massenmedien:
Für die Stadtbevölkerung waren während der beiden Lockdowns abseits der Arbeitsplätze nahezu sämtliche direkten sozialen Interaktionsmöglichkeiten entfallen. Damit entfiel aber auch die allermeiste niedrigschwellige Kommunikation mit Menschen außerhalb der eigenen sozialen Wohlfühlzone. Die findet nämlich in den Städten vor allem über Freizeitinteressen statt, bei denen die unterschiedlichen Lebenswelten überhaupt noch aufeinander treffen: Sportvereine und Fitnessstudios, Konzertbesuche und Kino. Aber all das war ja geschlossen. Informationen konnten so über einen erheblichen Zeitraum nur noch aus den Massenmedien bezogen und nicht mehr über das Alltagskontakte mit der Realität abgeglichen werden. Die homogenen, oft akademisierten urbanen Wohlstandsmilieus haben so völlig kritiklos in blindem Vertrauen das Narrativ von der schweren, weltweiten Pandemie übernommen – und glitten in eine heillose Selbstgleichschaltung ab.
Auf dem Land greift dieser Mechanismus jedoch nicht. Die Landbevölkerung ist in ihrer Alltagswahrnehmung viel weniger abhängig von medialer Berichterstattung und kann im Ernstfall schnell auf nachbarschaftlichen Austausch zurückfallen. Dort ist es eben auch möglich, dass beispielsweise ein Juristenehepaar sich eine Landstelle saniert und dann über den Gartenzaun mit dem Krankenpfleger, der Fleischereifachverkäuferin oder dem Lohnunternehmer von nebenan klönt – und dann eventuell die eigene Einschätzung entgegen dem Mainstream-Narrativ revidiert.
Lehren aus der niedersächsischen Landtagswahl? Bisher Fehlanzeige…
Wenn es der politischen Linken um tatsächliche Solidarität und nicht nur um selbstgefälliges Virtue Signalling ginge, dann darf sie einer Partei wie der AfD nicht einfach kampflos das Feld überlassen, sondern muss die Gründe analysieren, warum plötzlich und wie aus dem Nichts gemäßigte Gewohnheitswähler vom Land und Stadtbevölkerung aus den sozialen Brennpunkten in größerem Umfang eine Partei wählen, die bisher nichts mit ihren Interessen zu tun hatte und die sie vielleicht sogar selbst in einem gewissen Umfang ablehnen. Aber bisher gibt es aus dieser Richtung keinerlei Anzeichen einsetzender Selbstreflexion, sondern man rümpft die Nase über die hinterwäldlerische Landbevölkerung und das tumbe urbane Prekariat, das den bösen Nazi-Rattenfängern anheim gefallen ist.
Aus einem abbezahlten Einfamilienhaus mit Trampolin im Garten in Constantia oder Wolthusen heraus lässt es sich nämlich leicht gegen alleinerziehende Zweifachmütter pöbeln, die aus pseudosozialer Solidaritätsbesoffenheit von der Mehrheitsgesellschaft monatelang bei geschlossenen Betreuungseinrichtungen in der viel zu kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung einer transvaaler Mietskaserne eingesperrt wurden und die jetzt auch noch mit den Folgen der verkorksten Energiewende konfrontiert werden.
Wer bitte seid Ihr, dass Ihr solchen Menschen dann mit der Moralkeule einen überzieht, wenn sie ihrem Ärger in der Wahlkabine mit dem Kreuz an der falschen Stelle Luft machen? Was erwartet Ihr? Dass solche Leute sich auch noch bei Euch für den unglaublichen Schwachsinn der letzten zweieinhalb Jahre bedanken?
Aus diesem Verhalten der politischen Linken spricht die pure Ignoranz. Wer so reagiert, der braucht sich nicht wundern, wenn dann bei der nächsten Bundestags- oder Landtagswahl ganze Landstriche dem politischen Gegner anheim fallen. Wenn im biederen Niedersachsen eine im Wahlkampf kaum wahrnehmbare und lange chaotisch geführte AfD plötzlich in einigen Landesteilen ostdeutsche Ergebnisse einfährt, ist ein Umdenken unausweichlich.
Die Zeiten, in denen es ausreichte, Applaus durch das Beweisen von Gratismut einzuheimsen, sind vorbei.
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