Die Auricher Straße in Emden kennt vermutlich auch der ein oder andere zufällige Leser dieses Blogs, der nicht aus Ostfriesland kommt. Es handelt sich dabei um jenes Teilstück der B 210, auf der man ein paar Kilometer durch Emden unterwegs ist, wenn man von der Ausfahrt der A 31 Richtung Norddeich weiterfährt. Dort legen die Fähren nach Juist und Norderney ab und zu Beginn der Sommerferien in Nordrhein-Westfalen kann hier extrem starker Verkehr unterwegs sein. Entsprechend „großzügig“ ist die Auricher Straße ausgebaut. Zwischen Innenstadt und dem Abzweig in den bereits zum Landkreis Aurich gehörenden Emder Vorort Hinte verfügt die Auricher Straße über jeweils zwei Richtungsfahrbahnen.
Die Nebenanlagen sind hingegen bescheiden. Radfahrer und Fußgänger werden auf einem viel zu schmalen getrennten Geh- und Radweg zusammengepfercht und von der Stadtverwaltung per Benutzungspflicht von der Fahrbahn ferngehalten. Die Anlagen wurden mindestens seit Mitte der 1990er-Jahre hinter der Autobahnauffahrt nicht mehr modernisiert.
Unfallhergang vermutlich typischer Geisterradler-Unfall
Gestern (31.08.2023) kam es nun auf stadteinwärts rechtsseitigen Radweg zu einem tödlichen Verkehrsunfall eines 14jährigen Schülers. Der fuhr gemäß der Pressemitteilung der Polizeiinspektion Leer/Emden wohl stadtauswärts linksseitig in Richtung Hinte. Aus der Gegenrichtung kam ihm rechtsseitig stadteinwärts ein 12jähriger Schüler entgegen. An der Einmündung der Erikastaße in die Auricher Straße befindet sich derzeit eine Baustelle. Zum derzeitigen Stand der Ermittlungen haben sich irgendwo in diesem Bereich die Fahrradlenker der beiden Schüler ineinander verhakt, sodass der 14jährige auf die Fahrbahn geriet und dort mit dem Auflieger eines LKW zusammenstieß. Der Schüler verstarb daraufhin im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Der unfallbeteiligte LKW und dessen Fahrer konnten bisher nicht ermittelt werden.
Ein typischer Geisterradler-Unfall, könnte man meinen. Das Fahren auf Radwegen entgegen der Fahrtrichtung ist besonders innerorts wesentlich gefährlicher, als eine Fahrbahnfahrt oder die doppelte Querung einer Straße. Doch obwohl der Unfall an der Auricher Straße eben dieses hohe Unfallrisiko bestätigt, stellen sich einige ernste Fragen bezüglich der Mitverantwortung der Stadtverwaltung Emden.
Auricher Straße: Geh- und Radwege seit den 1990er-Jahren marode
Die Nebenanlagen an der Auricher Straße befinden sich, wie bereits kurz angedeutet, in einem äußerst miserablen Zustand. Das betrifft so ziemlich jeden Aspekt, der eine gute Radverkehrsführung ausmacht. Der Oberbau ist gepflastert und an vielen Stellen gibt es Wurzelaufbrüche. Die Beschilderung durch die Stadtverwaltung ist wild. Mal wird ein ehemals getrennter Geh- und Radweg per blauem Lolli zur Gemeinsamkeit umdefiniert, dann wieder linksseitig in die Gegenreichtung freigeben. Alles ist schön benutzungpspflichtig, sodass sich der geneigte Pedelec-Pendler dem Bauschrott nicht legal entziehen kann, auch wenn es die Verkehrslage auf der überbreiten Auricher Straße oft zulässt.
Nicht zuletzt ist die Auricher Straße lang. Es gibt nur wenige Querungsmöglichkeiten. Wer mit dem Rad an der falschen Stelle an einer Einmündung herauskommt, muss unter Umständen einen ordentlichen Umweg fahren. An der Abzweigung Richtung Hinte, der Landesstraße, wird man als Radfahrer umständlich um die Kreuzung herumgeführt, um den linksseitigen Radweg zu erreichen. Derartige Verkehrsführungen sind eine regelrechte Einladung zur Geister- und Gehwegradelei.
Eigentlich hätte die Stadtverwaltung Emden seit der einschlägigen Fahrradnovelle von 1998 und zahlreichen höchstinstanzlichen verwaltungsrechtlichen Urteilen auf diesem Gebiet über 20 Jahre Zeit gehabt, etwas am bedauernswerten Zustand zu ändern. In so einer langen Zeit gilt dann auch irgendwann nicht mehr das Argument der chronischen Geldknappheit. Lösungsansätze gibt es durchaus. So hätte man etwa die jeweils äußeren Fahrspuren in für den Radverkehr freigegebene Busspuren umwidmen können. Die Lösung hat sich beispielsweise in Münster bewährt. Oder man hätte sich an der Larrelter Straße orientiert. Dies ist die nördliche Ausfallstraße Richtung VW-Werk und Dollartcenter. Auch diese Strecke ist vierspurig ausgebaut, aber parallel verläuft ein beleuchteter gemeinsamer Geh- und Radweg, wohlgemerkt sogar als Zweirichtungsradweg. Allerdings ist der fast so breit wie eine eigene Fahrbahn, asphaltiert und noch einmal durch einen tiefen Graben vom Kraftverkehr getrennt.
Keine akzeptable Umleitung für den Sielweg
Der schlechte Zustand der Radwege an der Auricher Straße hat aber noch einen weiteren Hintergrund. Zwischen Hinte und dem Emder Hauptbahnhof verlief noch bis in die 1960er-Jahre parallel zur Hauptbahn die Schmalspurbahn Emden-Pewsum-Greetsiel. Auf deren Trasse befindet sich heute eine Nebenstraße, die bei Radfahrern sehr beliebt ist. Alle Emder Gymnasien sowie beide Berufsschulen sind über die Strecke hervorragend angebunden. Umgekehrt besuchen etliche Emder Schüler die IGS Hinte, die eigentlich bereits zum Landkreis Aurich gehört.
Auf dem letzten Teilstück vor Hinte war die Straße bisher jedoch nicht asphaltiert. Dies holt die Stadt Emden gerade nach. Es ist absehbar, dass hier eine hervorragende Fahrradroute entsteht, die den Radverkehr von der Auricher Straße weitestgehend abziehen wird. Genau so absehbar war allerdings auch, dass während der Bauphase erheblicher Schülerverkehr zwischen Emden und Hinte auf die Auricher Straße ausweichen wird – und zwar in beide Richtungen. Doch anstatt für eine akzeptable temporäre Lösung zu sorgen, hat die Stadt Emden die Radfahrer – und das sind eben haupstächlich Schüler – mit ein paar schnell aufgestellten Umleitungsschildern abgespeist. Die Umleitungsschilder verweisen dabei in Richtung Hinte auf den linksseitigen Radweg, also entgegen der Fahrtrichtung.
Führte eine kleine Baustelle an der Auricher Straße zur Katastrophe?
Am Unfalltag gab es aber noch eine weitere Unstimmigkeit. Derzeit befindet sich an der Einmündung zum Erikaweg eine typische Gehwegbaustelle. Versorgungsleitungen werden bevorzugt unter dem Gehwegpflaster gelegt, da dies für Reparaturen oder den Anschluss relativ schnell entfernt werden kann. Solche Baustellen sind aber oft miserabel abgesichert. So stürzte beispielsweise 2019 in Münster eine 77jährige Radfahrerin in einer ähnlichen Situation in eine Baugrube und verstarb an den Unfallfolgen.
An der Auricher Straße ist derzeit auf wenigen Metern der Gehwegteil gesperrt und es verbleibt nur der ca. einen Meter breite Radwegteil. Zum Vergleich: Die „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ sehen alleine für einen einseitigen Radweg eine Mindestbreite von 1,60 Metern vor. An einer Baustelle kann man vielleicht auf 1,20 Meter runtergehen, aber wenn dann auch noch Fußgänger hinzukommen und der Radweg in beide Richtungen befahren wird, müsste eigentlich ein Teil der Fahrbahn gesperrt und eine entsprechende Ausweichstelle geschaffen werden. Dies haben die Stadt Emden und der Baustellenbetreiber versäumt. Stattdessen hängte man das schnodderige Verkehrszeichen 1012-32 „Radfaher absteigen“ auf. Das Zeichen ist regelmässiger Streichkandidat in der StVO, da es zahlreiche rechtliche Widersprüche auslöst. Manch böser engagierte und emanzipierte Radfahrer sieht es als „Red Flag“, dass Bauherr oder Verwaltung keinen Bock hatten, die Baustelle vernünftig abzusichern, aber sich irgendwie aus der Haftung für Unfälle herausstehlen wollen.
An der Auricher Straße hat ein 14jähriger Schuljunge diese Schluderigkeit nach derzeitigem Stand mit dem Leben bezahlt.
Schlimm.
Bei solch tragischen Meldungen bin ich froh, in einer Gegend zu leben, in der es so einen lebensgefährlichen Schrott wenig bis gar nicht gibt. Auch wenn sich diese Radwege-Pest auch hier (trotz heftigen Widerstands meinerseits) immer weiter ausbreitet – und ich mich mit anderem Dreck (bspw. willkürlichen Verkehrsverboten auf alternativlosen Umleitungsstrecken) herumärgern muss. Mehrere Versuche meinerseits, bei ähnlichen Unfällen per Strafanzeige die Staatsanwaltschaften zu Ermittlungen gegen (auch gerne mittels touristischer Wegweisung Radfahrer zum unfallträchtigen Gehwegradeln anstiftende) Behörden zu bringen, schlugen alle Fehl. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.
Das Problem ist halt auch: Selbst wenn es die beschissenen blauen Schilder nicht gäbe – 95 % der Radfahrer würden trotzdem dort fahren – und tödlich oder schwer verunglücken. Damit das auch so bleibt, werden all jene, die sachlich auf die „Nebenwirkungen“ von Radwegen hinweisen, aus dem Diskurs vollkommen ausgegrenzt. Das kennen wir ja aber auch vom anderen großen Thema der letzten drei Jahre.
Das wirlich Fiese an der Sache ist:
Eigentlich ist die Situation hier vor Ort relativ gut. Wir haben in Ostfriesland tolle Alternativstrecken, die nicht per Blauschild verseucht sind und auf denen man zügig mit dem Rad von A nach B kommt. Aber das hält die Behörden halt trotzdem nicht davon ab, die Radler per Blauschild auf den übelsten Bauschrott zu schicken…
Tja, ein paar brauchbare Alternativstrecken gibt es hier auch.
Die „Alternativstrecke“, über die ich (und natürlich auch radfahrende Kinder, zu deren „Sicherheit“ man das angeblich so macht, da sie auf der asphaltierten Strecke ja ansonsten gefährlich überholt werden würden) über 5 Monate gezwungen werden, sieht so aus. Voll verkehrssicher.