Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Fahrradlicht: Ein überschätzter Lebensretter?

Wenn das Laub fällt und die Tage kürzer werden, kommen zuverlässig die Mahner von Verkehrswachten, Polizei und Kraftfahrverbänden aus dem Sommerschlaf gekrochen, um die Radfahrerschaft mit Blinkies, Wahnwesten und moralisierenden Ermahnungen an ein funktionstüchtiges Fahrradlicht zu beglücken. Mein diesjähriger Favorit ist das folgende Prachtexemplar eines besorgten Fernfahrers, das auf Twitter mit einer rührseligen Paulanergarten-Geschichte angekrochen kommt. Die Kommentare hat der gute Mann inzwischen geblockt. Das ist inzwischen auf Twitter üblich, wenn die gut gemeinten Ratschläge nicht all zu gut ankommen und die Emotionen hochkochen…

Ja, ich reagiere auf derartige gute Ratschläge inzwischen ziemlich ungehalten. Geschichten wie diese haben in etwa den Wahrheitsgehalt von Impfwerbespots des Bundesgesundheitsministeriums. Eigentlich muss man nur mit ein wenig Datenkompetenz in der frei zugänglichen, offiziellen Verkehrsunfallstatistik der Bundesrepublik Deutschland recherchieren, um die hier dargebotenen Geschichten als das zu entlarven, was sie tatsächlich sind:

An den Haren herbeigezogene Schauermärchen, die allenfalls zur Opferverhöhnung beitragen.

Machen wir uns also die Mühe.

Mangelhaftes Fahrradlicht: Bei Radunfällen nur extrem selten Ursache

In die Unfallstatistik der Bundesrepublik Deutschland sind für das Jahr 2021 genau 91.126 Unfälle mit Radfahrer-Beteiligung eingegangen. Ganze 117 Unfälle (0,13 Prozent) davon wurden offiziell auf die Ursache „Nichtbeachtung der Beleuchtungsvorschriften“ zurückgeführt[1]Datenbank Destatis Genesis: Unfallbeteiligte: Deutschland, Monate, Art der Verkehrsbeteiligung, Fehlverhalten der Fahrzeugführer und Fußgänger.. Defektes oder nicht vorhandenes Licht am Fahrrad spielt also als Unfallursache in der Gesamtbetrachtung eine völlig vernachlässigbare Rolle.

Das ist jedoch nicht alles. Details in der Unfallstatistik deuten darauf hin, dass entgegen landläufiger Vorurteile die Lichtdisziplin der Radfahrer inzwischen sehr gut ist. Vielleicht ist sie sogar besser, als bei Autofahrern. Sieht man sich nämlich die offizielle Unfallstatistik noch einmal näher an, zeichnet sich eine widersprüchliche Entwicklung ab. Während Todesfälle bei Radunfällen seit den 1980er-Jahren glücklicherweise stark abgenommen haben, stieg die Gesamtzahl verunglückter Radfahrer recht kontinuierlich an. In der vergangenen Dekade scheint sich dieser Trend leider beschleunigt zu haben:

2020 wurde zum ersten Mal die Marke von 90.000 verunfallten Radfahrern gerissen[2]Die Daten der Jahre 2020-2022 müssen allerdings mit höchster Vorsicht interpretiert werden, da sich die Corona-Hysterie gerade im Radverkehr massiv auf die Zusammensetzung des Kollektivs ausgewirkt … Continue reading. Beleuchtungsmängel als Unfallursache hingegen haben innerhalb der letzten Jahre vom ohnehin schon niedrigen Level noch einmal drastisch an Bedeutung verloren. Weist Destatis für das Jahr 2008 noch in 434 Fällen Verstöße gegen Beleuchtungsvorschriften als Unfallursache aus, hatte sich dieser Wert bis 2018 halbiert. Während der Corona-Hysterie ist er dann noch einmal eingebrochen. Die beiden Trends laufen also stetig auseinander. Es gibt insgesamt mehr Unfälle, aber immer weniger davon werden auf Unregelmäßigkeiten am Fahrradlicht zurückgeführt.

Der anfällige Felgenlauf-Dynamo stirbt aus

Es gab in den letzten 15 Jahren im Bereich der Fahrradbeleuchtung enorme Fortschritte. Um die Jahrtausendwende herum waren Felgenläufer-Dynamo und Halogen-Leuchtmittel noch Stand der Technik – zumindest in Deutschland. Die StVZO schrieb bis 2013 sogar vor, dass Fahrräder über elf Kilo Gewicht[3]Unterhalb dieser Marke lagen seinerzeit nur ausgesprochen leichte Rennräder, was unter Montainbike-Sportlern immer wieder für Kopfschütteln sorgte. mit fest verbauter Beleuchtung und eigenem Dynamo ausgestattet sein mussten. Doch diese Regelung war eine erhebliche Innovationsbremse im Massenmarkt. Anstatt günstige Baumarkträder für wenig Geld mit halbwegs zuverlässiger und unkomplizierter Batteriebeleuchtung auszustatten, griffen die Anbieter auf billigste Dynamos und anfällige Verkabelungen zurück. Nabendynamos blieben in diesem Marktsegment lange unerschwinglich.

2013 fiel die Dynamopflicht, 2017 dann auch die Vorschrift, dass die Lichter fest verbaut sein müssen. Parallel stiegen die Beleuchtungshersteller von Glüh- und Halogenlampen auf LED-Fahrradlicht um. Die verwendeten Leuchtdioden sind deutlich langlebiger, witterungsbeständiger und insgesamt zuverlässiger, als die bisher verwendeten Leuchtmittel. Radfahrer haben heutzutage die Wahl, ob sie auf Batterielicht setzen und damit auch noch die Verkabelung als Fehlerquelle ausschließen, oder aber einen Nabendynamo bevorzugen, bei dem man sich nicht um Ladevorgänge kümmern muss[4]Ich selbst setze übrigens auf Akkulicht, da ich auf längeren Touren ohnehin die Kamera und einige Ersatzakkus im Gepäck habe. Nach und nach verschwinden zudem mit herkömmlichem Fahrradlicht ausgestattete Alträder aus dem Verkehr.

In der Vergangenheit dürften zumindest vereinzelt Ermittler an Unfallstellen bei Lichtdefekten am Fahrrad vorschnell auf dessen Ursächlichkeit für den Unfall geschlossen haben. Andere, womöglich zutreffendere Ursachen wurden dann möglicherweise nicht mehr ermittelt. Da mit den zuverlässigeren Leuchtmitteln auch die Lichtqoute bei den Radfahrern merklich gestiegen ist, dürfte dies nach und nach immer seltener vorkommen. Lichtdefekte als scheinbare Unfallursache verlieren danach mehr und mehr an Bedeutung – die sie eventuell niemals hatten.

Der Innovationsprung hatte zudem keinen nachhaltigen Einfluss auf das Gesamtunfallgeschehen. Der Schluss liegt nahe, dass Fahrradbeleuchtung und auch vorgebliche Sichtbarkeitsutensilien wie Blinkies oder Wahnwesten vom Sicherheitsaspekt her betrachtet deutlich weniger wirksam sind, als von Polizei, Verkehrswachten, Kommunen und anderen Beteiligten gemeinhin angenommen wird.

Ist das Fahrradlicht überhaupt ein Lebensretter?

Nun ist es möglich, dass eine Unfallursache zwar selten vorkommt, aber übermäßig häufig zu besonders schweren, mitunter tödlichen Verletzungen führt. Genau das ist ja der Vorwurf aus dem eingangs erwähnten, unseligen Twitter-Threads. Die offizielle Unfallstatistik geht leider nicht genug ins Detail, um dies herauszufinden. Zumindest derzeit ist es in Destatis nicht möglich, die entsprechenden Filter miteinander zu koppeln. Dazu bräuchte man die Rohdaten der Unfallstatistik. An die kann man durchaus herankommen, aber das ist gar nicht notwendig. Es gibt andere Möglichkeiten:

Im Internetzeitalter wird nahezu zu jedem tödlichen Fahrradunfall eine Pressemitteilung durch die entsprechenden Polizeidienststellen veröffentlicht. Meist sind auch Lokalreporter der Tageszeitungen vor Ort. Der Blogger Thomas Schlüter hat sich dies zu Nutzen gemacht. Schlüter verzeichnet seit 2013 penibel jeden pressebekannten tödlichen Fahrradunfall, verlinkt die entsprechenden Artikel der Lokalpresse oder Pressemitteilungen der Polizeidienststellen und versieht sie meistens mit einem kurzen Kommentar zum Unfallhergang[5]Die Daten können hier heruntergeladen und dann mit Excel ausgewertet werden.. Auch wenn ein Defekt am Fahrradlicht vorlag oder vermutet wird, nimmt er das mit in seinen Kommentar mit auf.

Stand heute finden sich in dieser Datenbank insgesamt 4404 Unfälle, von denen bei 52 zumindest in der Meldung ein Zusammenhang mit der Beleuchtung vermutet wurde[6]Hier deckt sich der Inhalt der offiziellen Bundes-Unfallstatistik eventuell nicht mit Schlüters Sammlung, weil die Polizei bspw den Lichtdefekt als vermutete Unfallursache beim Eintrag in die … Continue reading. Damit wären Unfälle auf Grund unzureichender Beleuchtung bei den Todesfällen zwar überrepräsentiert, aber immer noch so selten, dass sie gerade einmal ein gutes Prozent der bekanntgewordenen tödlichen Fahrradunfälle ausmachen.

Bei der Betrachtung von Schlüters Datenbank fällt aber noch etwas anderes auf:

Kein einziger dieser Unfälle entspricht dem typischen Rechtsabbieger-Unfall zwischen LKW und Fahrrad. Stattdessen finden die allermeisten tödlichen Unfälle mit fehlender Beleuchtung am Fahrrad nach Einbruch der Dunkelheit auf Landstraßen statt. Die Unfallgegner in der Datenbank saßen fast ausschließlich im PKW. Es handelt sich um ein komplett anderes Unfallszenario.

Fazit

Gutes Licht am Fahrrad ist wohl in erster Linie eine Frage des Komforts und der möglichen Geschwindigkeit. Jeder, der mal ohne funktionsfähiges Fahrradlicht in einer stockdunklen Nacht auf einem Feldweg unterwegs war weiß, dass es in so einer Situation kaum möglich ist, viel schneller als Schrittgeschwindigkeit zu fahren. Normalerweise kann man dann auch gleich absteigen und schieben. In der Stadt sieht das jedoch anders aus. Dort sind die Straßen meist gut ausgeleuchtet und man kommt auch ohne Licht zügig und sicher voran.

Die Statistiken legen nahe, dass die Lichterführung am Fahrrad keinen nachweisbaren Einfluss auf das Unfallrisiko der Radfahrer hat. Wenn aber selbst aktive Fahrradbeleuchtung kaum etwas bringt, wie sollen sich dann passive Mittel wie Wahnwesten oder Blinkies noch etwas an der Situation ändern? Es zeichnet sich ab, dass dieser Tand schlicht ungeeignet ist, irgendeinen sinnvollen Beitrag zur Verkehrssicherheit zu erbringen.

Obwohl die empirische Evidenz für die Schutzwirkung von Leuchtmitteln am Fahrrad so ernüchternd ausfällt, hält sich hartnäckig das Narrativ vom Rüpelradler, der durch Verzicht auf den offenkundig nutzlosen Christbaumschmuck quasi selbst am eigenen Leid schuld trägt. Dabei sind entsprechende Äußerungen gerade aus Richtung der Fernfahrer völlig unangebrachtes victim blaming:

Die Opfer schwerer Fahrradunfälle mit LKW-Beteiligung sind nämlich eben nicht überwiegend sportliche, männliche Radfahrer mit, nennen wir es emanzipiertem Fahrstil, sondern häufig Frauen, Kinder oder ältere Menschen, die sich vertrauensvoll an die Regeln halten und häufig gar nicht erkennen, wie sich gerade eine lebensgefährliche Verkehrssituation aufbaut. Anstatt, dass anerkannte Institutionen wie Verkehrswachten, Polizei und lokale Behörden ihre Arbeit hauptsächlich auf die Unfallverursacher ausrichten, tingeln sie Jahr für Jahr im Herbst mit glitzerndem Gedöns über deutsche Schulhöfe.

Dabei sind die wenigen Radfahrer ohne Licht, die tatsächlich nachts auf stockdunklen Landstraßen totgefahren werden, keine Kinder, sondern eher Erwachsene mit mindestens akutem Alkoholproblem.

Fußnoten

Fußnoten
1 Datenbank Destatis Genesis: Unfallbeteiligte: Deutschland, Monate, Art der Verkehrsbeteiligung, Fehlverhalten der Fahrzeugführer und Fußgänger.
2 Die Daten der Jahre 2020-2022 müssen allerdings mit höchster Vorsicht interpretiert werden, da sich die Corona-Hysterie gerade im Radverkehr massiv auf die Zusammensetzung des Kollektivs ausgewirkt zu haben scheint. Es hat vermutlich deutliche Abwanderungen aus den öffentlichen Verkehrsmitteln in Richtung Radverkehr und MIV gegeben. Zudem waren Fahrradtouren während der beiden Lockdowns sowie dem stark eingeschränkten Breitensport ein beliebter Ausgleich zum Homeoffice.
3 Unterhalb dieser Marke lagen seinerzeit nur ausgesprochen leichte Rennräder, was unter Montainbike-Sportlern immer wieder für Kopfschütteln sorgte.
4 Ich selbst setze übrigens auf Akkulicht, da ich auf längeren Touren ohnehin die Kamera und einige Ersatzakkus im Gepäck habe.
5 Die Daten können hier heruntergeladen und dann mit Excel ausgewertet werden.
6 Hier deckt sich der Inhalt der offiziellen Bundes-Unfallstatistik eventuell nicht mit Schlüters Sammlung, weil die Polizei bspw den Lichtdefekt als vermutete Unfallursache beim Eintrag in die Datenbank noch verwerfen kann oder die entsprechende Information nicht in der Pressemitteilung genannt wird.

Gib den ersten Kommentar ab

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.